Lost Places: Eines der ganz Großen geht für immer

Alte Bahnhöfe, stillgelegte Strecken, Werke im Ruhestand: verlassene Bahn-Orte. Einige werden wiederbelebt, andere zu historischen Stätten. Um viele ranken sich Geschichten – geheimnisvoll und spannend. Die besten haben wir ausgegraben in unserer Serie „Lost Places“. Heute: das Bahnbetriebswerk 1 Frankfurt/Main.

Ein Kesselwagen und eine Lok der Baureihe 141 harren noch im Bahnbetriebswerks 1 Frankfurt/Main aus. (Foto: DB AG/Tina Henze)

Der Kesselwagen und die Lok stehen einträchtig nebeneinander. Noch. Demnächst wird die E-Lok der Baureihe 141 abgeholt – ein Eisenbahnliebhaber hat die leichteste Variante der Einheitslokomotiven erstanden. Sie wird in eine private Sammlung überführt. Damit verlässt die letzte Lok jenen Standort, der 119 Jahre lang zu den ganz großen Bahnbetriebswerken der Republik gehörte.

Aufgelöst wurde das Bahnbetriebswerk (Bw) 1 Frankfurt/Main von 1889 inmitten des Gleisvorfeldes des Hauptbahnhofs der Mainmetropole bereits 2008, seither steht die Halle leer. In absehbarer Zeit weicht das historische Gemäuer der Zukunft: Bagger rollen an, um Platz für eine der größten Baustellen am Verkehrsknoten zu schaffen. Der Frankfurter Hauptbahnhof soll einen Fernbahntunnel mit zwei zusätzlichen unterirdischen Gleisen erhalten. Eine große Baustelleneinrichtungsfläche entsteht.

Zeit, Abschied zu nehmen: „Es ist seltsam und aufregend zugleich, wieder hier zu sein“, sagt Michael Bickel bei seiner Rückkehr ins Frankfurter Bw 1. Zwei Jahrzehnte lang war das Werk so etwas wie seine zweite Heimat. 1987 hat der gelernte Maschinenschlosser die Halle zum ersten Mal betreten. Das Geschäft brummte. „Intercity. Jede Stunde, jede Klasse.“ lautete der Werbespruch, der den Boom des bundesdeutschen Schnellzugverkehrs begleitete.

„Ob 140, 103, E110 oder 143 – wir haben hier all die wichtigen Lokomotiv-Baureihen instandgehalten, die kreuz und quer durch die Republik gefahren sind“, erinnert sich Bickel. Bei seinem Start im Bw 1 steckte er bereits in den Vorbereitungen für die Beamtenlaufbahn zum gehobenen technischen Dienst. Zehn Jahre später, 1997, wurde er Leiter der Dienststelle. Er führte sie, bis das Bahnbetriebswerk 2008 geschlossen und die Wartung aller Triebfahrzeuge ins Werk Frankfurt-Griesheim verlagert wurde.

Der ehemalige Dienststellenleiter Michael Bickel lässt die Geschichte des Bw 1 wieder lebendig werden. (Foto: DB AG/Tina Henze)
Damals: Das Foto von 1957 zeigt das Bahnbetriebswerk 1 von der Cambergerbrücke aus. (Foto: Archiv Eisenbahnstiftung)
Heute: In absehbarer Zeit wird das Gebäude abgerissen. Hier entsteht eine Baustellenfläche für den geplanten Fernbahntunnel. (Foto: DB AG/Tina Henze)
Zwei Stühle in stiller Zwiesprache auf dem verlassenen Schiebebühnenfeld. (Foto: DB AG/Tina Henze)

16 Jahre ist das nun her. Doch selbst verlassen vermag die Halle noch zu beindrucken. An der überwucherten Außenwand lehnt ein Bremswechselrichterschrank. „Für die Baureihe 103“, sagt Bickel nach einem kurzen Blick auf die Überreste. Viele der Gerätschaften sind damals an Ort und Stelle verblieben. Der ehemalige Leiter entdeckt die Überbleibsel der E-Lokwaschanlage, inspiziert das Schiebebühnenfeld und eine der vier Hebebockanlagen, klettert auf die Frontarbeitsbühne.

„Dort drüben“, sagt er und deutet in eine Ecke, „war unsere Anlaufstelle für Dieselloks.“ Denn auch wenn seinerzeit im Werk E-Loks beheimatet gewesen seien, „haben wir hier kleinere Instandhaltungsarbeiten an jeder Lok vorgenommen, die in den Hauptbahnhof gerollt ist.“ Bickel kennt jedes technische Detail, hat Anekdoten zu jeder Baureihe parat.

So auch zu der letzten noch verbliebenen Lok in der Halle mit der Kennung 141068 – 7: Zum Ende ihrer Betriebszeit habe die Baureihe 141 den durchaus liebevoll gemeinten Spitznamen „Knallfrosch“ erhalten: „Wenn die Einseinsundvierzig mit acht Silberlingen bestückt zum Beispiel oben auf dem Hügel in Bad Soden-Salmünster ankam, dann gab’s am Bahnsteig ordentlich piff, paff puff“, erinnert er sich lachend. Der Grund: Die Lastschalter für die jeweilige Fahrstufe wurden mit Druckluft betätigt – das erzeugte das deutlich hörbare, charakteristische Knallgeräusch.

Das Geheimnis des letzten verbliebenen Kesselwagens – auch das kennt Bickel. „Darin war unsere Wasserreserve, falls es mal brennen sollte“, erzählt er. „Zum Glück haben wir sie nie gebraucht.“ Für den Fall der Fälle warteten auf dem Dach außerdem riesige Ventilatoren, die den Rauch abgesaugt hätten.

Eigentlich sei im Werk ständig umgebaut worden, „es gab zig Erweiterungen.“ Die Außenmauern allerdings, die seien noch original, weiß Michael Bickel, der nicht erst seit seiner Pensionierung als Museumseisenbahner in der Bahnwelt Darmstadt-Kranichstein, Hessens größtem Eisenbahnmuseum, aktiv ist. Und so erzählt das Gemäuer bis heute auch die Geschichte der Eisenbahn in Deutschland.

Nichts mehr auf Lager: Nur ein einsamer Helm ist zurückgeblieben. (Foto: DB AG/Tina Henze)
Auf und Ab: Von diesen Hebebockanlagen gab es vier. (Foto: DB AG/Tina Henze)
Unzustellbar: Auf Nachrichten warten die persönlichen Postfächer schon lange vergeblich. (Foto: DB AG/Tina Henze)
Gilt auch heute noch: Der Leitspruch in Sachen Arbeitssicherheit prangt über der Eingangstür. (Foto: DB AG/Tina Henze)

Einen großen Einschnitt markierte der Zweite Weltkrieg: „Das Werk bot ein Bild des Jammers.“ –so steht es in der Festschrift, die zum 100. Geburtstag im Jahr 1989 erschienen ist. „Trümmer, Ruinen, fensterlose Höhlen, Rauch, Dreck Schlacken und dunkle Schmiere beherrschten die Szene“, beschreibt der Autor den damaligen Zustand. Aber der Aufbau schritt rasend schnell voran. 1956 wurde der erste Fahrleitungsmast im Frankfurter Hauptbahnhof gegründet, die Elektrifizierung war angekommen. E-Loks ersetzen die Dampfloks. 1968 wurde die Bekohlungsanlage des Bahnbetriebswerks abgebaut.

Der am Ende der 1970er Jahre einsetzende Boom des Schnellzugverkehrs verschaffte dem Werk eine langanhaltende weitere Hochphase. Bickel: „Bis zu 150 Kollegen haben hier gearbeitet – nicht nur in der Instandhaltung, auch der Verwaltung und Disposition, es gab angeschlossene Schulungs- und Büroräume.“ Das Bahnbetriebswerk 1 Frankfurt/Main atmet Bahngeschichte. Und Michael Bickel ist die perfekte Begleitung, um diese Geschichte vor Ort wieder lebendig werden zu lassen.

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